Kanzlei Kuhlen
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Nach Einführung des § 129 Abs.4d SGB V: Welche Retaxfallen verbleiben? | 14.12.2023
Mit Inkrafttreten des § 129 Absatz 4d SGB V durch das ALBVVG (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz) wurden die Möglichkeiten der Krankenkassen reduziert, Retaxationen vorzunehmen. Auch wenn viele Apotheker durch diese Neuregelung erleichtert sein dürften, verbleiben doch einige Situationen, in denen nach wie vor eine Retaxation droht.
Eine Nullretaxation ist durch die Neuregelung im SGB V insbesondere unzulässig, soweit die Abgaberangfolge – ohne besondere Begründung - nicht eingehalten wurde. Gemeint sind Fälle, in denen kein Rabattarzneimittel bzw. kein preisgünstiges Arzneimittel gewählt wurde oder Verfügbarkeitsanfragen nicht oder nicht vollständig durchgeführt wurden. In diesen Fällen muss die Krankenkasse jedoch nicht die reguläre Vergütung zahlen, sondern nur den EK des Arzneimittels (ohne Zuschläge nach AmPreisV) vergüten.
Weiterhin sind Retaxationen durch die neuen Regelungen nunmehr in folgenden Fällen unzulässig:
- Fehlende Dosierangabe auf der Verordnung
- Fehlendes oder nicht lesbares Ausstelldatum der Verordnung
- Überschreitung der festgelegten Belieferungsfrist um maximal 3 Tage mit Ausnahme der besonders geregelten Fälle.
- Wenn die Abgabe vor der Vorlage der ärztlichen Verordnung erfolgt
- Wenn eine notwendige Genehmigung bei Abgabe des Arzneimittels (noch) nicht vorlag.
Darüber hinaus gibt es bereits seit 2009 Regelungen in § 6 des Rahmenvertrages, welche die Retaxmöglichkeiten der Krankenkasse beschränken:
- So ist z.B. eine Retaxation unzulässig, wenn diese mit der Begründung erfolgt, dass aufgrund von Regelungen der ergänzenden Arzneilieferverträge notwendige Angaben (Kassen-IK, LANR, BSNR) fehlen würden oder von der Apotheke nachgetragen wurden. Einzige Ausnahme: Soweit eine Retaxation im Liefervertrag ausdrücklich vorgesehen ist, greift dieser Retaxausschluss nicht.
- Auch im Falle unbedeutender Formfehler (ohne Auswirkungen auf die Arzneimittelsicherheit oder Wirtschaftlichkeit) wurde eine Retaxation bereits durch § 6 des Rahmenvertrages ausgeschlossen. Hierunter fallen z.B. Schreibfehler oder eine unleserliche Arztunterschrift.
Hinzu kommt die im Rahmenvertrag vorgesehene Heilungsmöglichkeit bestimmter Fehler durch die Apotheke vor der Abrechnung. Aufgrund dieser Regelung ist der Apotheker z.B. berechtigt, fehlende Angaben zur Dosierung selbst auf dem Rezept zu vermerken.
Welche Retaxfallen bleiben durch diese ineinandergreifenden Regelungen nun aber bestehen bzw. ab wann greift die Neuregelung ?
Fraglich ist zunächst, wie in noch nicht abgeschlossenen Verfahren vorgegangen werden soll. Die Neuregelung des § 129 Abs.4d SGB V ist am 27.07.2023 in Kraft getreten. In allen Fällen, in denen die Abgabe des Arzneimittels am 27.07.2023 oder danach erfolgte, ist die Regelung in jedem Fall anwendbar.
Weil die Krankenkassen zum Teil aber mit erheblicher Verzögerung retaxieren, wird es für eine Übergangszeit noch viele Fälle geben, in denen die Abgabe eines Arzneimittels auf GKV-Rezept vor dem 27.07.2023 erfolgte und bei denen das Beanstandungsverfahren durch die Krankenkasse noch nicht begonnen hat oder aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Gerade bei kostenintensiven Nullretaxationen wäre dies besonders ärgerlich.
Aus Sicht der Apotheker wäre es hier wünschenswert, wenn in diesen beiden Fällen die neu durch das Gesetz in Kraft getretenen Regelungen anwendbar würden.
Denkbar sind 3 Zeitpunkte, auf die man für die Anwendbarkeit des § 129 Abs.4d SGB V abstellen könnte:
- Anwendbarkeit der Einschränkungen auf alle Verordnungen, die ab dem 27.07.2023 beliefert wurden.
- Anwendbarkeit der Einschränkungen auf alle Verordnungen, die ab dem 27.07.2023 oder später durch die Krankenkassen beanstandet werden.
- Anwendbarkeit der Einschränkungen auf alle ab dem 27.07.2023 noch „schwebenden Verfahren“.
Die Krankenkassen werden sich insoweit auf den Standpunkt stellen, dass die Neuregelungen nur auf Verfahren anwendbar sind, soweit die Abgabe des Arzneimittels erst ab dem 27.07.2023 erfolgte. Dies vermutlich mit der Argumentation, dass der Apotheker im Zeitpunkt der Abgabe wissen muss, nach welchen Regelungen er sich zu richten hat.
Die Apotheker dagegen werden geltend machen, dass die Neuregelung Anwendung finden muss, auf alle Verfahren, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Erleichterungen noch nicht abgeschlossen waren. Insoweit kann mit der Bestandskraft einer Entscheidung argumentiert werden. Solange eine Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist, sind neu eingeführte Regelungen anzuwenden, die im Laufe des Verfahrens geschaffen wurden.
Es wäre wünschenswert gewesen, dass der Gesetzgeber ausdrücklich in die Neuregelung aufnimmt, ab welchem Zeitpunkt diese angewendet werden soll. Dies ist tatsächlich aber nicht passiert. Es gibt lediglich eine „Klarstellung des Bundesministeriums für Gesundheit, dass von der Neuregelung nur Retaxationen erfasst sein sollen, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens ausgesprochen wurden. Für Absetzungen, die noch nicht abgeschlossene Beanstandungsverfahren betreffen, bei denen eine Beanstandung aber vor dem 27.07.2023 erfolgte, sei die Regelung nicht anwendbar.
Es hat in der Vergangenheit aber schon diverse Fälle gegeben, in denen „Klarstellungen“ des Gesetzgebers von der Rechtsprechung nicht bestätigt wurden. Dies auch häufig mit dem Argument, wenn der Gesetzgeber, eine Regelung entsprechend der Klarstellung gewollt hätte, dann hätte er eine entsprechende Formulierung des Gesetzestextes vornehmen müssen.
Im Ergebnis wird diese Frage durch die Gerichte geklärt werden müssen. Soweit Apotheker laufende Retaxationsverfahren haben, d.h. solche, die noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, sollte die Anwendbarkeit der Neuregelung daher in jedem Fall zu Gunsten der Apotheker geltend gemacht werden.
Ein weiterer wichtiger Bereich, der von der Neuregelung nicht umfasst ist, sind die Verordnungen mit besonderen Belieferungsfristen:
Grundsätzlich hat der Gesetzgeber festgelegt, dass eine Überschreitung der festgelegten Belieferungsfrist um maximal 3 Tage nicht mehr zu einer Retaxation führen darf. Insoweit wurden aber folgende Ausnahmen ausdrücklich festgelegt. In allen diesen besonderen Fällen bleibt es dabei, dass eine Retaxation erfolgen darf, wenn die vom Gesetzgeber festgelegte Belieferungsfrist überschritten wird. Es handelt sich insoweit um folgende Fälle:
Entlassrezepte:
Diese besonderen Rezepte sind nur vorgesehen, um den Patienten die Versorgungssituation beim Übergang von einer stationären in eine ambulante Behandlung zu erleichtern. Krankenhäuser haben daher im Rahmen des Entlassmanagements die Berechtigung kleine Mengen von benötigten Arzneimitteln zu verordnen.
Gerade weil damit aber nur eine kurze Übergangszeit abgedeckt werden soll, ist zur Rezeptgültigkeit in § 11 Abs.4 der Arzneimittel-Richtlinie festgelegt, dass ein Entlassrezept innerhalb von 3 Werktagen beliefert werden muss. Dabei zählt der Ausstellungstag mit, sofern die Verordnung an einem Werktag (alle Tage außer Sonntag und gesetzliche Feiertage) erfolgte.
Sofern die Verordnung an einem Sonn- oder Feiertag ausgestellt wurde, ist sie daher nur bis zum dritten darauffolgenden Werktag einlösbar. Erfolgte die Verordnung an einem Werktag so darf sie nur bis zum übernächsten Werktag eingelöst werden.
Besonderes Augenmerk ist insoweit auf BtM-Rezepte und T-Rezepte zu legen. Diese sind – ausgestellt im Rahmen des Entlassmanagements - nicht immer einfach zu erkennen. Auch bei diesen Verordnungen gilt aber die verkürzte Rezeptgültigkeit von 3 Werktagen!
BtM-Rezepte:
Auch außerhalb des Entlassmanagements ist die Möglichkeit der Einlösung von BtM-Rezepten zeitlich begrenzt. § 12 Abs.1c BtMVV schreibt vor, dass keine Abgabe von Betäubungsmitteln erfolgen darf, soweit die Verschreibung bei Vorlage in der Apotheke vor mehr als sieben Tagen ausgefertigt wurde. Der Ausstellungstag ist insoweit nicht der 1.Tag der Frist, d.h. die Abgabe muss spätestens am 7.Tag nach der Ausstellung des Rezeptes erfolgen.
Auch in diesem Zusammenhang greift die neue Retaxeinschränkung nicht. Es kann daher - auch bei einer Überschreitung der Frist um maximal 3 Tage – nicht geltend gemacht werden, nach § 129 Abs.4d SGB V wäre eine Retaxierung insoweit unzulässig. Für Betäubungsmittel ist dies ausdrücklich in dem neuen Gesetz herausgestellt worden. Daher könnte die Krankenkasse eine Nullretaxation durchführen, wenn die Abgabe eines Betäubungsmittels außerhalb der 7 Tage-Frist nach § 12 BtMVV erfolgt wäre.
Entsprechende Regelungen mit Befristungen gibt es auch für T-Rezepte und Rezepten über orale Vitamin-A-Säure-Derivate bei Frauen im gebärfähigen Alter. Auch insoweit sollten Apotheker wissen, dass die neue 3-Tage-Regelung auch nicht zu Ihren Gunsten angewendet werden kann.
IK